Seit Tagen kommt keine Post mehr, der Briefträger wurde auch nicht gesehen. Bei der Beschwerde-Hotline darf man, nachdem man dreimal die Eins, einmal die Null und zweimal die Acht entsprechend der Aufforderung des Computers am Ende der Leitung gedrückt hat, die Musik in der Warteschleife genießen, gelegentlich unterbrochen von einer freundlichen Frauenstimme, die darauf hinweist, dass zurzeit alle Serviceplätze besetzt seien und man bitte etwas Geduld haben solle. Nach einer guten Stunde scheinen die Plätze nicht mehr besetzt zu sein, denn die freundliche Stimme wird abgelöst von dem lakonischen und knappen Hinweis »bitte haben sie etwas Geduld«, der sich in Abständen von zehn Sekunden ständig wiederholt. Und damit einem nicht zu langweilig wird kommt deutlich später eine neue Ansage: »Leider sind zurzeit alle Leitungen belegt. Ihre Wartezeit beträgt eine Stunde und dreißig Minuten.«
Wenn man nun nicht entnervt aufgibt und den Hörer auf die nicht mehr vorhandene Gabel knallt, was in der Regel der Fall ist, kann es passieren, dass man nach weiteren gefühlten zwei Stunden tatsächlich einen Mitarbeiter in Bulgarien oder Sri Lanka am Ohr hat, der verspricht, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Da muss er sich wohl versprochen haben, denn es geschieht in nächsten Tagen – nichts!
Wie war es doch früher alles besser! Logisch! Früher war immer alles besser!
Wenn die Post ausblieb rief man dort an, wo am Morgen die Post verteilt wurde und von wo aus die Briefträger und Briefträgerinnen auf ihre Tour gingen. Auch da versprach man, sich zu kümmern. Und das war kein Versprecher sondern ein Versprechen. Es wurde umgehend ein Fahrer mit seinem Paketwagen losgeschickt, der die Tour des verlorengegangenen Zustellers abklapperte. Der sammelte dann den sturztrunkenen Briefträger nebst Post und Fahrrad aus dem Graben und am nächsten Tag war die Post da. Manchmal etwas verschmutzt oder nass, aber sie war da. Damals gab es in Niendorf und Schnelsen überall noch Straßengräben, die gelegentlich als Schlafstätte dienten, wenn es längere Zeit nicht geregnet hatte.
Ulli weiß, wovon er spricht, denn er hat früher als Student häufig bei der Post als Briefträger gejobbt. Im Graben hat er aber nie gelegen.
Man fragt sich allerdings, wie es dazu kam, dass der Briefträger besoffen war. Heute wäre das undenkbar. Aber damals wurde unter anderem am Monatsende die Rente für viele alte Leute vom Briefträger in bar ausgezahlt, denn ein Bankkonto hatten die meisten alten Menschen nicht. Die alten Damen - meist waren es Damen - standen dann schon an der Gartenpforte und warteten sehnsüchtig auf den Postboten. Der wurde umgehend zu Kaffee und Kuchen eingeladen garniert mit dem einen oder anderen Schnäpschen. Wenn man nicht irgendwann ablehnte, war die Wahrscheinlichkeit groß, im Graben zu landen.
© Ulli Kammigan, Okt. 2017